Laudatio
zur 1125-Jahr-Feier von Guntersblum
gehalten von
Gunter Mahlerwein
am 19. November 2022
im Dorfgemeinschaftshaus Guntersblum
(mit freundlicher Genehmigung des Autors Dr. Gunter Mahlerwein, Gimbsheim)
Gunter Mahlerwein
1125 Jahre Guntersblum
Wenn ich als Nicht-Guntersblumer hier eingeladen werde, die „Laudatio“ zu halten und die seit 1125 Jahren greifbare Geschichte der Gemeinde zu reflektieren, dann ist das für mich nur mit zwei Einschränkungen möglich. Um mit dem letzten zu beginnen, in 30 Minuten ist kein Schnelldurchgang durch die Guntersblumer Geschichte möglich. Für jedes seit 897 vergangene Jahr hätte ich 1,6 Sekunden Redezeit, für jedes Jahrzehnt 16 Sekunden, für jedes Jahrhundert 1,6 Minuten. Das ist zu wenig. Historiker interessieren sich auch nicht für alles, was in der Vergangenheit passiert ist, das wäre nicht zu schaffen. Sondern nur für das, was für die Gegenwart noch relevant scheint. Aber auch das ist viel zu viel. Die Guntersblumer Geschichte ist so reich an Themen, die für die Nachwelt wichtig erscheinen, dass daraus etliche Bücher geschrieben werden können. Und das ist ja auch geschehen. Vor allem aus Guntersblum stammende Autorinnen und Autoren haben sich immer wieder mit der Geschichte ihres Heimatdorfs befasst und etliches ans Tageslicht gebracht, was lange vergessen war. Ich nenne hier nur die Arbeiten vom Ehepaar Holl, von Frank Frey, Volker Sonneck, Dieter Michaelis oder von einem der frühen Lokalhistoriker, Wilhelm Weinerth. Etliche andere wären noch hinzuzufügen, gerade auch die Publikationen des sehr regen Kulturvereins. Wenn ich nun als Außenstehender über Guntersblumer Geschichte reden soll, dann tue ich das aus einem anderen, vielleicht distanzierteren Blick, aber natürlich auf der Grundlage dieser umfangreichen Recherchen.
Ich habe lange überlegt, aus welcher Perspektive ich diesen Blick anlegen soll. Aus der Perspektive eines Historikers, der sich intensiv mit der Geschichte ländlicher Gesellschaften vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert beschäftigt, aus der Perspektive des Rheinhessenhistorikers oder aber aus der subjektiven Perspektive von jemandem aus dem Nachbardorf, der seit frühester Kindheit und Jugend ganz viel mit Guntersblum zu tun hat, angefangen von schmerzlichen Erinnerungen an den Zahnarzt Hess, über seit der Schulzeit in die Gegenwart fortdauernde Freundschaften, Herbstferienjobs bei der Weinlese, über die meine Generation prägende Aktion Jugendtreff der 70er Jahre bis hin zur heute engen Beziehung zwischen unserem VG-Museum in Gimbsheim und dem Guntersblumer Museum im Kellerweg. Ich konnte mich nicht entscheiden und so werde ich die „Laudatio“ als Mischung aus diesen Perspektiven angehen und in den noch bleibenden 28 Minuten einige wenige Themen der Guntersblumer Geschichte vor allem aus einer Fragestellung heraus beleuchten: Was ist das Besondere an Guntersblum und was an der Guntersblumer Geschichte kann andererseits repräsentativ stehen für eine rheinhessische Dorfgeschichte.
Gerade der Blick des Gimbsheimers auf die nördlichen Nachbarn hat schon früh etliche Differenzen wahrnehmen lassen. Die Guntersblumer reden anders, hoste, biste, kannste fängt hier schon an, die Sprachgrenze liegt genau hier an der Kreisgrenze. Guntersblum sieht anders aus als die eigene Gemeinde und Guntersblum hat einen eigentümlichen Namen. Also was ist hier los?
Fangen wir mit dem Namen an. Auch die südlichen Nachbarn Eich und Hamm haben andere Namen als in Rheinhessen üblich. Aber etwas einsilbige, nicht so poetische. Ansonsten heißen rheinhessische Dörfer nach dem männlichen Sippenchef, der um das Jahr 500 sich mit den Seinen niederließ, Hütten und Ställe baute, Zäune errichtete und sich und seine Angehörigen so von den nächstgelegenen Siedlungsplätzen absetzte. Die Hofanlagen wurden dann in der Regel als Heim des Chefs benannt. Diese Namensprägungen waren weit verbreitet in Südwestdeutschland. Statt einem Franken und einem Heim haben wir es hier in Guntersblum aber eventuell mit einem Burgunder und mit einem Pflaumengarten zu tun. So zumindest deutet es die Sprachwissenschaft. Denn zwischen dem historischen Ereignis, der Existenz dieses Gunter, und der ersten schriftlichen Nennung waren ein paar Jahrhunderte vergangen, wahrscheinlich so um die 350. Dass wir hier heute nicht die schriftliche Ersterwähnung Guntersblums feiern, sondern die erste, die sich genau datieren lässt, wissen Sie alle. Bereits im Lorscher Reichsurbar ist die Siedlung erwähnt. Zwei Fuder Wein waren an das Kloster abzuführen aus „Chunteres frumere“. Es lässt sich aber nicht genau bestimmen, von wann diese Eintragung stammt, zwischen 830 und 850 wird angenommen. In der nächsten Urkunde von 897, wegen der wir heute hier zusammen sind, wird der Ort „Cundheresprumare“ genannt. Die derzeitig gängige Interpretation ist nun, dass es sich bei dem Ortsnamen um die Bezeichnung eines Pflaumengartens handeln muss, der einem Gunter gehört haben soll. Damit sind einige Erklärungen früherer Jahrhunderte vom Tisch. Ein Graf Gunter solle den Ort besessen und weil er ihm so gut gefiel, seine Blume genannt haben, erzählte man sich im 19. Jahrhundert. Andere stellten eine Verbindung her zum König Gunther aus der Nibelungensage, der der Ortsherr gewesen sein soll. Diese Annahme wurde noch dadurch unterstützt, dass es enge Verbindungen zwischen Xanten, wo bekanntlich der Drachentöter Siegfried herkam, und Guntersblum gab. Da König Gunther ja keine ganz so ruhmreiche Rolle im Nibelungenlied spielte, kann Guntersblum heute ganz zufrieden damit sein, dass diese Verbindung sich wissenschaftlich als nicht haltbar erwiesen hat. Eine König Gunter-Straße gibt es trotzdem und lange Zeit auch eine Fähre mit gleichem Namen. Nach einer anderen Untersuchung des 19. Jahrhunderts bedeutete frum das Recht der Nutznießung eines Orts und Guntersblum wäre dann der Sitz der Dienstleute eines Gunter, die hier dieses Recht innehatten. Da es noch andere Orte gab, deren Namen auf diese Rechtskonstruktion zurückzuführen sind, klingt das gar nicht so abwegig. Es ist aber nicht weiter verfolgt worden in der Forschung und dass Guntersblum auf einen Pflaumengarten zurückgeht, ist doch auch poetischer. So ganz überzeugt bin ich allerdings davon nicht. Aber egal, wie die Forschung sich da auch positioniert, auf jeden Fall ist der Ortsname ein Alleinstellungsmerkmal in der rheinhessischen Umgebung.
Der nächste Unterschied zu den anderen rheinhessischen Dörfern: 1125 Jahre, das ist doch ziemlich wenig. Gimbsheim feierte schon vor fünf Jahren sein 1250jähriges Jubiläum, wie viele andere rheinhessische Dörfer in den letzten Jahren, Alsheim sogar 1400 Jahre, aber das ist ein Sonderfall. Ist Guntersblum also jünger? Nein, es ist genauso alt, aber es wurde eben erst später erwähnt. Der überwiegende Teil der rheinhessischen Siedlungen fand zum ersten Mal schriftliche Erwähnung in den Jahren nach der Gründung des Klosters Lorsch kurz nach 760. In der Hoffnung auf ewiges Seelenheil oder auch aus erbrechtlichen Gründen beeilten sich viele Grundbesitzer der Gegend, dem neuen Kloster Schenkungen zu machen, einen Acker, einen Weinberg oder sogar ganze Gehöfte mitsamt seiner Bewohner. So wollte man sich den lieben Gott gefügig machen oder aber auch sich Reputation verschaffen. Aus Guntersblum gibt es keine entsprechenden Schenkungen.
Ein Grund hierfür kann sein, dass es hier nichts mehr zu verschenken gab, sondern anderweitig schon vergeben war. Dass jedenfalls die erste genau datierbare Erwähnung Guntersblums erst aus dem Jahr 897 erhalten ist, bedeutet nicht, dass es nicht schon andere Urkunden aus der Zeit vorher gab. Wahrscheinlich sind die Wikinger daran schuld, dass Gimbsheim schon 1250 Jahre feiern durfte, Guntersblum aber nicht. Denn in dieser Urkunde bestätigt ein König Zwentibold die Übertragung der Nutzungsrechte (servituti) in verschiedenen Dörfern an die Mönche des Klosters St. Maximin vor Trier, die sein Vater, der Kaiser Arnulf, schon vorgenommen hatte. Zu diesen Dörfern zählt Guntersblum, hier Cundheresprumare genannt, andere ebenfalls im heutigen Rheinhessen liegende Orte in dieser Übertragung sind Dienheim, Ebersheim und Fürfeld. Da es sich hier nicht um die Erstübertragung handelt, sondern um eine Bestätigung, muss es mindestens noch eine Urkunde von Kaiser Arnulf gegeben haben, in der Guntersblum erwähnt wird. Insgesamt wird aber vermutet, dass die rheinhessischen Besitzungen schon im 8. Jahrhundert an St. Maximin gekommen waren. Die Urkunden dazu sind aber verschwunden, denn: 882 kamen die Wikinger auf ihren Raubzügen bis an die Mosel und am Rhein bis Mainz, bevor sie dann zurückgeschlagen werden konnten. Die Reichsabtei St. Maximin fiel ihnen zum Opfer und so sind die im Kloster aufbewahrten Schriftstücke aus der Zeit vorher verlorengegangen.
Ebenfalls verlorengegangen sind die Besitzübertragungen an den Erzbischof von Köln. Er scheint im frühen Mittelalter die meisten Besitzrechte in Guntersblum innegehabt zu haben, das wird wiederum aus Urkunden des frühen 10. Jahrhunderts deutlich, in denen er Weinberge in Guntersblum an das Kloster der 11000 Jungfrauen in Köln überträgt. Die Besitzrechte des Stiftes St. Viktor in Xanten werden erst im 13. Jahrhundert nachweisbar, stammten aber wohl aus derselben Zeit. Möglicherweise war der Weinbau der Grund für die Klöster, den Besitz der weit entlegenen Güter über Jahrhunderte zu halten. Einmal im Jahr soll ein Schiff an Ober- und Mittelrhein geschickt worden sein, um die Abgaben an Wein einzusammeln. Schließlich wurde das nicht mehr als effektiv angesehen, das Stift verkaufte seine Rechte in Guntersblum an das Wormser Domkapitel und investierte das eingenommene Geld in näher gelegene Güter.
Im Laufe des späten Mittelalters konnten sich dann die Grafen von Leiningen über die Ansammlung verschiedener Herrschaftsrechte sukzessive die Ortsherrschaft sichern, sie blieben aber bis zum Ende des Alten Reichs lehensabhängig vom Kölner Erzbischof.
Diese komplizierte Herrschaftsgeschichte, also die Fragen: wer hat wann was zu sagen, wem gehört das Land, wer zieht welche Steuern ein, wer bekommt den Zehnten, wer besetzt das Dorfgericht, später dann auch: wer bestimmt die Konfession, das ist nicht außergewöhnlich, sondern völlig typisch für ganz Südwestdeutschland. Jedes Dorf hat ähnliche Geschichten zu bieten, ein Fall für Spezialisten und auch die irren oft. Selbst den Untertanen war noch im 18. Jahrhundert nicht immer klar, wer was zu fordern hatte. Aber die Ortsherrschaft in Guntersblum war dann doch eindeutig, spätestens als die Leininger das Dorf zum Residenzdorf machten und hier ihr Schloss bauten.
Auch das ist noch kein Alleinstellungsmerkmal. Schlösser gab es in anderen rheinhessischen Dörfern auch: in Lörzweiler, in Sörgenloch, in Wendelsheim, in Monsheim, in Hahnheim, hier ganz in der Nähe in Mettenheim, aber nicht in Alsheim, das dortige Schloss nennt sich nur so, war aber nie eines. Allerdings: in Guntersblum gibt es zwei Schlösser, das ist schon außergewöhnlich, und sie zählen zu den größten weit und breit. Ein Schloss im Dorf heißt ja auch: der Ortsherr sitzt einem immer auf der Pelle, mischt sich in alles ein, stellt Anforderungen an die Untertanen, übt Kontrolle aus. Das kann schon für schlechte Stimmung sorgen. Andererseits bedeutet ein Schloss im Dorf auch einen Wirtschaftsfaktor, werden Handwerker und Gewerbetreibende gebraucht. Und: Es spielte sich ein Leben im Schloss ab, das den Untertanen zum Teil verborgen geblieben sein muss.
Mitunter ging es dort schon turbulent zu. So lebte hier in den 1670er Jahren Graf Johann Ludwig, dessen Verlobte Gräfin Amalie Sybille von Daun einen Sohn bekam, der, da der Graf sich dann doch für eine andere entschied, unehelich blieb. Die Nachkommen aus dieser zweiten offiziellen Verbindung waren die Erbberechtigten. Einer von ihnen war Graf Friedrich Ludwig, der es so toll trieb, dass 1770 ein Absetzungsverfahren gegen ihn vor dem Reichshofrat in Wien angestrengt wurde. Er wurde wegen Bigamie und Blasphemie angeklagt, zudem soll er gegenüber seinen Untertanen übergriffig und gewalttätig gewesen sein, ohne ausreichende Gründe Leute in Haft gesteckt oder aus dem Land vertrieben haben. Eine Kommission unter dem Vorsitz der Kurfürsten von der Pfalz und von Mainz ermittelte gegen ihn und er wurde in seinem eigenen Schloss in Heidesheim arrestiert. Noch bevor der Reichshofrat endgültig über die Absetzung entschieden hatte, starb der Graf, der in der Literatur des 19. Jahrhunderts als der Tyrann von Leiningen-Guntersblum bekannt war.
Da sein Bruder schon einige Jahre zuvor gestorben war, war diese Linie, wie es beim Adel so schön heißt, im „Mannesstamm erloschen“. Der Besitz sollte an eine andere Linie der Leininger gehen. Jetzt traten aber die beiden Enkelsöhne des 100 Jahre zuvor in Guntersblum unehelich geborenen Kindes von Graf Johann Ludwig auf den Plan und klagten, ebenfalls vor dem Reichshofrat, ihre Erbnachfolge ein. Erstaunlicherweise gewannen sie diesen Prozess und so wurden 1787 zwei neue Grafenhäuser begründet. Graf Wilhelm Carl übernahm Guntersblum, sein Bruder das Amt Heidesheim. Der neue Graf von Leiningen – Guntersblum ging voller Tatendrang an die Durchsetzung seiner Vision einer gräflichen Herrschaft. Er ließ sogleich mit dem Bau des neuen Schlosses beginnen und annoncierte in dem „Journal von und für Deutschland“ seinen Erlass vom September 1787, in dem er um Zuzug in seinen „Hauptort Guntersblum“ warb: „geschickte Handwerker, Künstler, Fabrikanten und Manufacturisten, Kaufleute, Entrepreneurs und Kapitalisten“ sollten alleine oder mit ihren Familien nach Guntersblum kommen. Er versprach ihnen völlige Gewissens- und Religionsfreiheit, Bürgerrechte, Befreiung von leibherrschaftlichen Lasten, Hilfe beim Hausbau, völlige Freiheit von Zunftbeschränkungen. Wirte sollten die „Schildgerechtigkeit“ umsonst bekommen. Mit diesem für die Zeit sehr fortschrittlichen Programm wollte er offensichtlich Guntersblum zu einem Ort machen, wie es ihn im Heiligen Römischen Reich kaum noch einmal gab. Sicher spielte eine Rolle bei dieser Vision einer Residenz, dass er als Beamter am Mannheimer Hof bei Kurfürst Karl Theodor tätig gewesen war und in Heidelberg Jura und Staatswissenschaften studiert hatte. Ein wesentliches Interesse dürfte aber auch gewesen sein, durch eine aufblühende Wirtschaft seine Steuereinahmen zu vergrößern. Denn der neue Graf gab gern Geld aus, am neuen Schloss ist das ja deutlich zu sehen.
Viel Zeit blieb ihm allerdings nicht, schon 1792 marschierten die Franzosen ein, Guntersblum wurde kurzzeitig Teil der Mainzer Republik, der Graf musste ins Rechtsrheinische ausweichen. Auch familiär war er nicht sehr glücklich. Seine Ehe mit der 34 Jahre jüngeren Gräfin Eleonore von Bretzenheim, einer unehelichen Tochter des pfälzischen Kurfürsten Carl Theodor, versprach zwar eine riesige Mitgift, ging aber in die Brüche und wurde 1801 vor einem französischen Gericht geschieden. Eleonore gelang es, das Schloss im Familienbesitz zu behalten und sie residierte auch durch die französische Zeit hindurch hier. Möglicherweise trug ihr Verhältnis mit einem französischen General, von dem verschiedentlich berichtet wird, dazu bei, dass sie sich hier halten konnte. Ihre älteste Tochter übernahm das Guntersblumer Gut und lebte hier als Ehefrau des badischen Generals Freiherr von Stockhorn. Nach dessen Tod im Jahr 1843 schrieb die Frau Generalin, geborene Gräfin von Leiningen, das Gut zur Pacht aus: 275 Morgen Äcker, Wiesen, Weinberge und Gärten, außerdem Wohnungs-, Ökonomie- und Kellergebäulichkeiten.
Damit sind wir beim nächsten Thema: der Weinbau in Guntersblum. Ich konzentriere mich auf das 19. Jahrhundert, da das Thema ansonsten abend- oder besser morgenfüllend würde. Auch darin unterscheidet sich die Gemeinde kaum von ihrem rheinhessischen Umfeld. Der Weinbau hat heute eine zentrale Bedeutung, war schon in den ersten frühmittelalterlichen Urkunden erwähnt worden und spielte in der Guntersblumer Geschichte durchweg eine wichtige Rolle. Allerdings nahm er bis ins 20. Jahrhundert von der Gesamtfläche nur einen kleinen Anteil ein. Zwar wird schon 1831 berichtet, dass hier sehr viel Wein angebaut werde und 59 Keltern sich im Ort befänden. Der Statistiker Demian zählt den Guntersblumer Wein 1825 zu den vorzüglichsten in Rheinhessen. Aber in der Mitte des 19. Jahrhunderts waren es nur 600 Morgen, die mit Weinbergen bebaut waren, 5 % der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche. Bis 1880 hatte sich die Weinbau-Fläche schon verdoppelt, bis zum Ersten Weltkrieg änderte sich dann aber nicht mehr viel. Der Grund für die mit heute verglichen geringen Ausmaße des Weinbaus vor der Mitte des 19. Jahrhunderts lag vor allem in seinem zeit- und düngeraufwändigen Anbau, zudem wurden die Flächen in erster Linie für die Erzeugung von Nahrungsmittel gebraucht. Aber Weinbau war rentabel, der Geldertrag der Weinberge übertraf den der Getreideäcker deutlich, vor allem wenn man auf familiäre Arbeitskräfte zurückgreifen und die Arbeit im Wingert und im Keller neben der Arbeit für Ackerbau und Viehzucht verrichten konnte. Reine Winzerbetriebe waren daher kaum anzutreffen, der Weinbau musste in Gemischtbetriebe integriert sein. Dazu passt die Beobachtung aus dem Jahr 1866, dass der Besitz der Weinberge so unter die Grundeigentümer verteilt sei, dass „Hauptproduzenten“ nicht auszumachen seien.
Ein Hinweis darauf, wie viele Guntersblumer Winzer ihren Wein für Vermarktung angebaut haben, sind die 60 Kelterhäuser und 100 Keller, die sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts im Kellerweg befunden hatten. Und mit diesem Kellerweg hat Guntersblum wieder ein Alleinstellungsmerkmal. Zwar gibt es auch andernorts Kellerwege, aber es ist eben der Guntersblumer Kellerweg, der – nicht zuletzt durch das Fest – für diese Konzentration von Kellern und Kelterhäusern steht. Er soll schon um 1600 wegen der hohen Grundwasserstände in der Ebene angelegt worden sein. Im 19. Jahrhundert bereits wird er in der überregionalen Weinliteratur als Besonderheit hervorgehoben, insbesondere die im Kellerweg praktizierte Geselligkeit. Beim Mainzer Historiker Schaab klingt das 1847 ganz gesittet: befreundete Familien versammelten sich an Sonntagen und schönen Abenden bei ihren Kellern bei einem Glas Wein. Zehn Jahre vorher hatte Johann Philipp Bronner das ganz anders beschrieben:
„Schlüßlich will ich noch eines Gebrauches erwähnen, der zwar an andern Orten früher auch ziemlich üblich war, jezt aber so ziemlich verschwunden ist, außer in Guntersblum, wo er noch in voller Kraft aufrecht erhalten wird. Ich meine damit die Keller-Gastfreundschaft. Hier ist es nämlich üblich, daß gegen das Frühjahr, wenn der Wein abgestochen wird, jeder Kellerbesitzer, dessen Keller nicht Weinleer ist, seine Nachbarn, Verwandte und Bekannte zu einem Imbiß einladet, welcher in dễm Keller selbst eingenommen wird. Dieser Imbiß besteht aus Brod, Butter und Käse, auch Würsten, Schinken und dgl., besonders weil um diese Zeit oft geschlachtet wird. Daß dabey der Humpen frei unter den Fässern waltet, versteht sich von selbst. Dieser Anreiz zur Fröhlichkeit verfehlt selten den Zweck. Nachdem man bis in späten Abend genug geschwätzt, über diese oder jene Qualität dieses oder jenes Besizers gestritten, und mitunter durch Anstimmung mehrerer Lieder dem Sinne für Lustigkeit die Zügel gelassen, trennt man sich mit dem Versprechen, den morgenden Mittag bey einem der Gåste auf dieselbe Art zuzubringen , und taumelt in mehr oder weniger Begeisterung nach Hause. Dies begeisternde Verhältniß dauert so lange, bis die liebe Sonne die Winzer an ihre Frühlingsarbeiten ruft, und somit den Taumel des Winters verscheucht.“
Ob der „Taumel des Winters“ auch zu den Guntersblumer Besonderheiten gehörte oder rheinhessenweit üblich war, dazu müsste noch geforscht werden.
Ein Rückblick auf die Ortsgeschichte darf nicht ohne Erinnerung an den schlimmsten Tag der Geschichte Guntersblums bleiben, den 10. November 1938, als Guntersblumer Nationalsozialisten die letzten hier noch wohnhaften jüdischen Männer stundenlang in einem sogenannten „Schandmarsch“ durchs Dorf trieben, bei dem sie bespuckt und verprügelt wurden, bis dann am Schluss Gegenstände aus der Synagoge und die Thora-Rollen vor dem Rathaus verbrannt wurden. Fotos dieser Aktionen, die in Archivmaterial aufgetaucht waren, gingen vor einigen Jahren bundesweit durch die Presse und veranlassten den Journalisten und Historiker Sven Felix Kellerhoff dazu ein Buch zu schreiben „Ein ganz normales Pogrom“, das ebenfalls bundesweit Beachtung fand. Die Vorgänge im Rahmen des von den Nazis spöttisch als „Reichskristallnacht“ bezeichneten Novemberpogroms waren auch vorher schon bekannt, in der Erinnerung vieler Guntersblumer Einwohnerinnen und Einwohner präsent und auch schon in den Schriften von Pfarrer Michaelis zur jüdischen Geschichte des Dorfs aufgearbeitet worden. Was neu war und warum es für bundesweites Aufsehen sorgte, waren eben die Fotos. Es gibt kaum Bildmaterial, zumal nicht aus dörflichen Kontexten, zu solchen Ausschreitungen, so dass der dokumentarische Wert der Guntersblumer Fotos als sehr hoch einzustufen ist. Gerade auch, dass Schulkinder zu sehen sind, die den Zug begleiteten, dass Menschen an den Straßen stehen und zuschauen oder aus ihren Fenstern das Geschehen beobachteten, lässt einen als Betrachter unmittelbar überlegen, wie man selbst in einer solchen Situation reagiert hätte, aber auch, wie die Kinder und Erwachsenen den Rest ihres Lebens mit der Erinnerung an diesen Tag umgegangen sind.
Noch für die Zeit um 1900 hatte der aus Oberhessen nach Guntersblum gekommene jüdische Lehrer Heinemann Stern festgestellt „das Verhältnis zwischen den Juden und diesen (Christen) war absolut normal, das heißt freundnachbarlich, ohne eine Spur von antijüdischen Neigungen“, gleichwohl es auch schon Antisemiten gegeben habe. Was also in diesen knapp vierzig Jahren in Guntersblum geschah, dass Nachbarn ihre Nachbarn durchs Dorf treiben und drangsalieren, ist kaum zu verstehen und kann stellvertretend für die gesamte deutsche Geschichte gefragt werden.
Anders als Kellerhoff halte ich die Ereignisse im November 38 in Guntersblum für kein „ganz normales Pogrom“. Auch wenn es in vielen Dörfern der Umgebung auch zu Ausschreitungen gekommen war, die jüdischen Familien gequält, ihre Wohnungen verwüstet, ihre Zukunft in den Gemeinden endgültig zerstört wurden, einen solchen Marsch durch die Gemeinde hat es sonst nicht gegeben.
Sicher hat die frühe Infiltration der nationalsozialistischen Ideen in Guntersblum damit zu tun. Guntersblum war eines der rheinhessischen Dörfer, in denen früh Ortsgruppen aktiv war und die früh auch schon auf ihre Umgebung wirkten. Schaut man sich die Wahlergebnisse der Jahrzehnte vorher an, so zeigen sich drei bis vier Blöcke, einerseits die Rechtsliberalen, deren Stimmen im Verlauf der Weimarer Republik aber immer stärker in Richtung Deutschnationale und Völkische Gruppen sich bewegten, ein relativ kleiner Stamm von katholischen Zentrumswählern, eine 1919 noch große Gruppe von linksliberalen Wählern, die aber wie fast überall bis zum Ende der Weimarer Zeit fast vollständig verschwanden, und eine relativ stabile SPD-Wählerschaft. Es ist sicher nicht falsch auf der rechten Seite eher die Landwirte und Winzer, auf der linken die Arbeiter und Tagelöhner zu vermuten. Auffällig ist nun, dass bei den Wahlen 1924 der Völkisch-Soziale Block, dann die neu zugelassene NSDAP mit 24 bzw. 47 Stimmen zwar kein großes Ergebnis einfuhren, dass aber im Kreis Oppenheim diese Gruppen hier mit weitem Abstand die besten Erfolge hatten. Das deutet auf die frühe Organisierung von ortsansässigen Nationalsozialisten hin. Die Ortsgruppengründung fand schon 1925 statt. Bis 1933 konnten die Nationalsozialisten ihren Anteil auf über 50 % ausbauen, das lag aber teilweise deutlich unter dem Ergebnis in anderen Dörfern. Weiterhin bildete die SPD einen ziemlich starken Block und konnte auch das Zentrum seinen Stamm halten. Von einer NS-Hochburg kann also hinsichtlich der frühen Organisierung, aber nicht hinsichtlich der Durchdringung der Einwohnerschaft durch Naziideologie vor 1933 gesprochen werden.
Als sehr positiv ist allerdings auch zu werten, dass in Guntersblum nach Jahrzehnten des Schweigens die Geschichte der jüdischen Bevölkerung und ihr Schicksal aufgearbeitet wurde, gründlicher und früher als in vielen anderen Gemeinden. Vor allem die Arbeit von Pfarrer Dieter Michaelis und der Guntersblumer Stolpersteingruppe ist hier hervorzuheben.
Ich habe lange überlegt, womit ich diesen Vortrag ausklingen lassen soll. Etliche Themen wären noch nennen, etwa der Beitrag Guntersblums zur Literaturgeschichte, in Person von Magister Lauckhard, der sich zeitweise hier aufhielt, und des großen Schriftstellers Georg K. Glaser, der hier geboren wurde, aber auch schon früh wegging.
Viel wäre zu sagen zu dem, was ich an anderer Stelle als Aufbruch im Dorf oder auch als Aufbruch in Rheinhessen bezeichnet habe, die Modernisierung der Dörfer in den Nachkriegsjahrzehnten, der wirtschaftliche Strukturwandel, die Veränderung der Dorfgesellschaft durch Zuziehende, die Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Krieg, die Arbeitsmigranten ab den sechziger Jahren, der Zuzug aus den Städten in die Neubaugebiete, gerade hier in Guntersblum auch die Geschichte der aus Russland kommenden Aussiedlerfamilien, aktuell auch der vor den Kriegen in ihrer Heimat Flüchtenden der letzten Jahre. All das veränderte die Dörfer. Darauf einzugehen fehlt aber die Zeit. Daher will ich den Vortrag mit einem Thema beenden, mit dem ich mich in letzter Zeit wissenschaftlich beschäftige und für das Guntersblum immer wieder beispielhaft angeführt werden kann: die Populärkultur der 60er und 70er Jahre. Sind musikalische Phänomene wie ein sehr aktives Blasorchester, verschiedene Chöre, Tanzmusikveranstaltungen in den Sälen der großen Gastwirtschaften und musikalische Unterhaltung beim Kellerwegfest und allen anderen Weinveranstaltungen in ähnlicher Form in vielen anderen rheinhessischen Gemeinden auch zu finden, so zeigt die Guntersblumer Popkulturgeschichte schon früh einige Besonderheiten, die im dörflichen Kontext eher selten sind. Hier ist zu allererst der Guntersblumer Beatclub zu nennen, der um 1968 im Tanzsaal vom – später leider abgebrannten – Gasthaus „Rebstock“ installiert wurde. Hier spielten fast jedes Wochenende Beatbands aus England und Deutschland, so etwa die seinerzeit sehr bekannten „Rattles“ aus Hamburg, die „Petards“ aus Oberhessen und vor allem die „Lords“. Noch im gleichen Jahr wurde der „Beatclub“ zur Diskothek Pop Shop“ ausgebaut, die an vier Abenden pro Woche geöffnet war und zusätzlich sonntagnachmittags eine „Teenagerparty“ veranstaltete. Beworben wurden die Veranstaltungen häufig mit Verweisen auf die städtische Herkunft der Musiker: Bands aus Berlin, Hamburg, London, Diskjockeys und „Gogo-Tänzerinnen“ aus Frankfurt sollten die ländlichen Jugendlichen anlocken.
Mehr als alle Strukturanalysen zeigen solche Details, wie sich die Dörfer entwickelt hatten. Sie sind spätestens in den sechziger Jahren angekommen in der Moderne. Medienstars wurden nicht mehr nur über Kino, Radio und Fernsehen wahrgenommen, schon das waren erhebliche Schritte in eine neue Zeit. Sie kamen auch selbst, um hier ein Publikum zu finden, das teilhaben wollte an den globalen Popkulturen. In den siebziger und frühen achtziger Jahren wurden die in den Sechzigern begonnenen Aktivitäten fortgesetzt, jetzt war es vor allem die Aktion Jugendtreff, die als Konzertveranstalter auftrat und viele Auftritte mit auch international erfolgreichen Musikern und Gruppen ermöglichte, sicher für ein kleineres Publikum und manchmal eher als Geheimtip. Dass im besagten Rebstock im Frühjahr 1977 mit John Renbourn und Jacqui Mc Shee ein englisches Duo spielte, das in den Jahren vorher als Teil einer weltweit bekannten Folkjazzband Auftritte in der New Yorker Carnegie Hall oder in der Londoner Royal Albert Hall bestritt, gilt für Insider bis heute als Sensation. Längst aber waren die Impulse der Populärkultur auch bei der Dorfjugend angekommen, die sich mit bloßem passiven Zuhören nicht mehr zufrieden gab. Bereits vor diesem Auftritt der Engländer hatte sich eine Songgruppe der Aktion Jugendtreff gegründet, die später in „Rapunzel“ umbenannt, überregional erfolgreich war und deren musikalischer Chef Fritz Vollrath eine lange musikalische Karriere mit zahllosen Auftritten und Platten- und CD-Aufnahmen startete. So schließt sich der Kreis.